geschichte der schweizer literatur, band 1 und 2 (de)

История швейцарской литературы. В 3-х т. / Под. ред. Н.С. Павловой (отв. ред.), А.В. Маркина, В.Д. Седельника. – Т.1: Средние века; Гуманизм, Реформация, Контрреформация; Просвещение. – Т. 2: XIX век. – М.: ИМЛИ РАН, 2002.

«Mit Unterstützung des Schweizer Fonds »Pro Helvetia« und des Russischen humanitären Wissenschaftsfonds hat ein Kollektiv von Literaturwissenschaftlern am Institut für Weltliteratur in Moskau eine dreibändige Literaturgeschichte der Schweiz erarbeitet, deren erster Band in achtzehn Kapiteln unterschiedlichen Umfangs von den Anfängen bis 1800 reicht und zu drei Fünfteln von der Zeit der Aufklärung handelt. Als verantwortlicher Redaktor hat N. S. Pavlova eine allgemeine Einleitung »Das Problem des nationalen Selbstbewußtseins und die Schweizer Literatur« verfaßt. Sie wendet auf das Land in der Mitte Europas die Formel »Vielfalt in der Einheit« an; denn es handelt sich hier um vier Landessprachen und Literaturen, zwei Konfessionen und eine unterschiedliche Geschichte in allen Teilen des Bundesstaates mit großer Selbständigkeit der Kantone. Der allmähliche staatliche Zusammenschluß ergab sich zwangsläufig aus der ständigen Gefahr der Annexion durch die großen Nachbarn seit dem Beginn der Befreiung von der Herrschaft Habsburgs 1291. Auch aus der Besonderheit der Landschaft erwuchsen mit den Jahrhunderten solidarisches Verhalten und Nationalstolz. In der Aufklärungsepoche nahmen die kulturelle Vielfalt und die wechselseitige Verflechtung mit der Kultur der Nachbarländer zu; die Literatur des kleinen Landes erlangte in ihrer Wirkung europäische Dimensionen und im 19. Jahrhundert weltliterarische Bedeutung.
Der erste Band des Werkes ist den vor seinem Erscheinen verstorbenen Literaturwissenschaftlern Max Wehrli und A. V. Michajlov gewidmet, die mit ihren letzten Arbeiten dazu beigetragen haben. Weiter Autoren sind D. L. Čavčanidze, A. D. Michajlov, V. D. Sedel’nik und A. I. Žerebin. Aus der Feder des bekannten Zürcher Gelehrten Wehrli stammen die ersten beiden Kapitel, »Die Entstehung der Schweizerischen Konföderation: historische Zeugnisse, Legende, Ideologeme« und »Geistliche Literatur«. Vom Bündnisvertrag der Waldstätten am 1. 8. 1291 zeugen nur spätere Abschriften und Chroniken mit der Tell-Sage. Historische Volkslieder berichten von den Schlachten bei Morgarten, Sempach und Näfels. Marienleben, Gebete und geistliche Dramen waren der Beitrag der Kleriker zum ältesten überlieferten Schrifttum. Das dritte Kapitel gibt einen Überblick über den schweizerischen Minnesang im Hochmittelalter, bei dessen Vertretern die regionale Zugehörigkeit zur Schweiz mitunter umstritten ist. Es folgt eine Analyse des grotesk-komischen didaktischen Heldenepos Der Ring des Heinrich Wittenweiler, einer Enzyklopädie des spätmittelalterlichen Lebens. Provenzalische Troubadour-Lyrik, Chroniken und Mysterienspiele aus der rätoromanischen Kultur beschließen den Mittelalterteil.
Die schweizerische Literatur in der Epoche des Humanismus und der Reformation ist entscheidend geprägt durch das kirchliche und politische Wirken der bedeutenden Reformatoren Zwingli und Calvin. Eine wichtige Funktion hatte das Drama der Reformation, vorgestellt mit satirischen Dialogen des Malers und Dramatikers Niklaus Manuel, von Pamphilus Gengenbach, Heinrich Bullinger und dem katholischen Dichter Hans Salat. Aus dieser Zeit sind außerdem Fabeln (Ulrich Boner) und Lehrgedichte von Interesse. Dem Nachfolger Calvins, dem französischen Humanisten Théodore de Bèze, seiner Tragödie Das Opfer Abrahams, seinen Psalmenübersetzungen und reformationsgeschichtlichen Werken ist ein weiteres Kapitel gewidmet. Das 17. Jahrhundert wird als Übergangsepoche zwischen Renaissance und Aufklärung betrachtet, in der die Literatur unter den Restriktionen der Orthodoxie und des Patriziats nur eine epigonale Rolle spielte.
Den Hauptteil des Buches, »Aufklärung«, leitet eine allgemeine Charakteristik der schweizerischen Literatur dieser Epoche ein. Die im 18. Jahrhundert idealisierte Freiheit und Demokratie der Schweiz wird als Konstrukt und Mythos mit den realen Verhältnissen unter aristokratischen Oligarchien konfrontiert. Von der theoretischen deutschen Aufklärung unterscheidet sich die schweizerische durch eine mehr praktische Tendenz, die Hinwendung zu sozalpolitischen Aufgaben und konkreten Reformen. Sie ging der deutschen voraus in der für das ganze Jahrhundert wegweisenden Anglophonie und Frankophobie, im philosophischen Sensualismus und in der Entwicklung der empirischen Psychologie zu einer sich über viele Disziplinen erstreckenden synkretistischen Wissenschaft, der allgemeinen Anthropologie. — In einem besonderen Kapitel wird der gebürtige »Bürger Genfs« Jean-Jacques Rousseau in seinem unglücklichen Verhältnis zur Schweiz vorgestellt, die er als Schriftsteller und Staatstheoretiker idealisierte, deren Machthaber hingegen seine Werke als religions- und staatsgefährdende Machwerke verboten und verbrennen ließen. Der große Physiologe und Polyhistor Albrecht v. Haller wurde auch durch seine idealistisch-religiöse Gedankenlyrik und Lehrdichtung bekannt, die keinen unmittelbaren Zusammenhang zu seinen materialistischen wissenschaftlichen Arbeiten aufweist, während beide Seiten bei Lomonosov eine Einheit bilden. Als bemerkenswert modern wird an Haller hervorgehoben, daß er textgenetische Editionen seiner frühen Gedichte veranstaltete, ebenso wie Bodmer und Breitinger in ihrer Ausgabe der Gedichte Martin Opitz’. — Über den in den Geschichten der deutschen Literatur recht stiefmütterlich behandelten Johann Jakob Bodmer und seine Schule (dazu zählen der junge Klopstock und Wieland ebenso wie Friedrich Leopold Graf zu Stolberg u. a.) hat A. V. Michajlov das umfangreichste Kapitel dieses Bandes geschrieben (130 S.) und damit eine Aufwertung des großen und folgenreichen Theoretikers vorgenommen. Die in Bodmers und Breitingers ästhetischen Schriften theoretisch gerechtfertigte »malende Poesie« ist in Lessings Laokoon polemisch verurteilt worden, hat sich aber bis zu Hölderlin hin in der dichterischen Praxis mit Erfolg behauptet. Michajlov leitet Bodmers ästhetische Theorie der Anschaulichkeit der malerischen Gestalt aus dem platonischen Begriff εναργεια (Klarheit, Deutlichkeit, lebendige Darstellung) ab und sieht als Vermittler dafür Shaftesbury, der noch um 1800 in Deutschland keinesfalls veraltet war. Damit in Zusammenhang stehen das Wunderbare, Erhabene, Überraschende und Malerische, überhaupt die Rolle der Phantasie. Als adäquate Verkörperung dieses Bodmerschen Prinzips versteht Michajlov den Maler Johann Heinrich Füßli, Schüler Bodmers und Klopstock-Epigone, der in den Literaturgeschichten meist unerwähnt bleibt, obwohl er fast ausschließlich Literatur gemalt hat. Bodmer ist ein wichtiger Vorläufer eines Begriffs von Weltliteratur und der Komparatistik (vor Herder) und hat große Verdienste um die Verbreitung der neuartigen Homer-Rezeption, die von England ausging und zu einem römisch-griechischen Paradigmenwechsel führte. Mit der Entdeckung und Veröffentlichung mittelalterlicher Dichtungen wurde er ein Vorläufer der zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstehenden Altgermanistik; neuartig und wirkungsreich war schließlich auch sein Interesse an Dante, Milton, Shakespeare und Cervantes. – Den europäischen Ruhm des Malerdichters Salomon Geßner führt Michajlov zu Recht auf seine kunstvolle Buchgestaltung zurück, die gelungene Einheit von Idyllen-Text und –bild und Buchdesign. Die besonders in Frankreich bis zum Jahrhundertende Dichtungen, Tugend- und Naturverherrlichung in der irrealen Welt einer unhistorischen Antike, waren keine naive Kunst, wie sie sich den Anschein gaben, sondern raffiniertes Rokoko. Noch verbreiteter und auch länger von Bestand (bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts) war der europaweite Ruhm des wundersüchtigen Apostels der Geniebewegung und der unverwechselbaren Individualität Johann Kaspar Lavater. Analysen seiner Physiognomischen Fragmente und des Geheimen Tagebuches verdeutlichen seine tiefe Verwurzelung in Pietismus und Sentimentalismus und seinen ganz individuellen Christuskult. Von Lavater beeinflußt waren auch die beiden plebejischen Schriftsteller, mit deren Darstellung der vorliegende Band schließt, der autobiographische Autor und Shakespeare-Verehrer Ulrich Bräker und der große Pädagoge und Reformer Johann Heinrich Pestalozzi, dessen Wirksamkeit bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts andauerte. Pestalozzi kritisierte wie Rousseau die Aufklärung als bloß theoretische Bewegung; er fühlte sich in einem messianischen Sendungsbewußtsein aus christlicher Nächstenliebe zu den Ärmsten zur reformerischen Praxis berufen. Die Französische Revolution als gewaltsame Umgestaltung der Welt bestärkte ihn andererseits in seine eschatologischen Überzeugungen hinsichtlich des Schicksals der Menschheit. Der Idee der humanistischen (ästhetischen) Erziehung der Klassik setzte er religiöse Erziehung entgegen; Vorbilder für sein Prinzip der Sittlichkeit sah er in den Werken Rousseaus und Kants. Sein Hauptwerk, der pädagogische Dorfroman Lienhard und Gertrud, gründet sich im Gegensatz zu zahlreichen utopischen Romanen auf Pestalozzis Erfahrungen des realen Lebens. Der Erziehungspraktiker wollte kein Kunstwerk schaffen; in der Analyse wird verdeutlicht, daß die Romanhandlung allmählich in einen dialogisierten philosophisch-pädagogischen Traktat übergeht.
Das inhaltsreiche und belehrende Werk gründet sich auf die Lektüre und ausführliche Zitierung der Quellenschriften; zusätzlich wurden, wie aus den Anmerkungen zu den einzelnen Kapiteln hervorgeht, ältere und neueste Arbeiten der schweizerischen, deutschen, französischen und englischen Forschungsliteratur berücksichtigt. Allgemeine kulturgeschichtliche Voraussetzungen, biographische Abschnitte und Werkinterpretationen ergänzen einander, wie auch die monographischen Kapitel den Gesamtzusammenhang nie außer acht lassen. <...>»
Günter Arnold (Weimar) in: «Das Achtzehnte Jahrhundert. Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts», Jahrgang 30, Heft 2, Wolfenbüttel 2006, S. 253-255


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